Beredtes Schweigen

Warum die Gedenkminute für die Opfer des Neonaziterrors ein starkes Zeichen sein kann

Als der Journalist und Weltkriegsveteran Edward George Honey im Mai 1919 in einem Brief an die Londoner Zeitung „Evening News“ verlangte, man solle am Jahrestag des Waffenstillstands am 11. November innehalten und mit fünf Minuten Stille der Toten des Weltkriegs gedenken, gab es Rituale des stillen Trauerns bereits. Schon die antiken Römer sollen zum Totengedenken beispielsweise Opferhandlungen für die stumme Göttin Tacita verrichtet haben, um feindliche Zungen und Münder zu bannen. Und das Christentum hatte über die Jahrhunderte neben Gebet und Gesang Praktiken demutsvollen Schweigens entwickelt. Insbesondere die Quäker kannten Rituale der stillen Einkehr.

Was Honey jedoch in die Debatte brachte und kurz darauf unter George V. mit der Einführung des Remembrance Day (Erinnerungstag) Bestandteil eines offiziellen Gedenktags für die Toten des Ersten Weltkriegs wurde, war die moderne Schweigeminute. Im Schweigen, so Honeys Intention, der die Freudentänze zu Kriegsende 1918 als unangemessen empfunden hatte, werde der Trauer ein würdiger Ausdruck verliehen. Vor allem aber sollte sich in der Gemeinsamkeit des Innehaltens und Gedenkens auch, wie der Anthropologe Karsten Lichau formuliert, „eine emotionale Einheit der Nation“ herstellen.

Seither breitete sich das derart aufgeladene Ritual als eine Art säkulares Ersatzgebet in anderen Ländern und über die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche aus. Ob 9/11 in New York, der Amoklauf von Anders Breivik oder auch der Suizid des Fußball-Tormanns Robert Enke: Wann immer Worte unzureichend erscheinen, wird auf die Schweigeminute zurückgegriffen – auch mit all den Ambivalenzen, die Trauerritualen im allgemeinen eigen sind. Denn einerseits sind sie wichtig, um Trost zu spenden, auch um Trauer und Mitgefühl überhaupt auszudrücken. Andererseits haftet ihnen der Ruch der bloßen Form, der Starrheit und des inhaltsleeren Pathos an.

In Deutschland erscheinen Rituale, zumal kollektive und solche, die auf Erhabenheit zielen, spätestens seit ihrer propagandistischen Nutzung in der Zeit des Nationalsozialismus suspekt. Auch dass die Aussagekraft schweigender Trauer ihre Grenzen hat, wird einem hierzulande immer wieder vor Augen geführt. Wenn Kritiker etwa dem alljährlichen stillen Gedenken an die Bombardierung Dresdens am 13. Februar vorwerfen, es habe Anknüpfungsmöglichkeiten für rechte Aufmärsche geboten, weisen sie damit auf Uneindeutigkeiten des Schweigens hin. Es mag eine starke Demutsgeste sein, als ein Mittel der Abgrenzung, der Differenzierung und der Analyse ist das Verstummen weniger geeignet.

Von der Schweigeminute, zu der Gewerkschaften und Arbeitgeber nun für heute (Donnerstag) parallel zum Staatsakt für die Mordopfer der Neonazi-Terrorzelle aufgerufen haben, kann dennoch ein positives Zeichen ausgehen. Sie ist – Wochen nach der Aufdeckung der Terrorakte – ein überfälliger zivilgesellschaftlicher Ausdruck des Mitgefühls mit den Opfern und ihren Angehörigen. Außerdem setzt sie der verqueren Logik der Mörder ein Signal entgegen: Indem sich im gemeinsamen Gedenken auch Zusammenhalt darstellt, werden die Opfer, die ermordet wurden, weil sie nach der rassistischen Ideologie der Täter nicht zu diesem Land gehören sollten, symbolisch integriert. Diese Handlung bleibt nur eine Geste, misszuverstehen ist sie aber keineswegs. Robert Schröpfer

LITERATURHINWEISE Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München 1982; Jan Assmann (Hg.), Der Abschied von den Toten – Trauerrituale im Kulturvergleich, Göttingen 2005; Alexandra Kaiser, Von Helden und Opfern – Eine Geschichte des Volkstrauertags, Frankfurt 2010.

 

Erschienen in der Freie Presse Chemnitz und den Dresdner Neuesten Nachrichten im Februar 2012.