Land der Hoffnungen, Land der Widersprüche

Der Schriftsteller Chaim Noll erzählt in seinem Buch „Kolja“ Geschichten aus Israel. Er zeigt ein anderes Land, als wir es aus dem Fernsehen kennen.

Dass Chaim Noll nicht nur gut erzählen kann, sondern auch einen Blick für gesellschaftliche Verhältnisse besitzt, hat er schon vor Jahren in seinem autobiografisch inspirierten Roman „Der goldene Löffel“ bewiesen. Der Schriftsteller, Sohn des linientreuen DDR-Autors Dieter Noll („Die Abenteuer des Werner Holt“), hatte den Wehrdienst verweigert und war 1983 in den Westen übergesiedelt. Nun zeichnete er aus der Binnensicht eines mit dem titelgebenden goldenen Löffel im Mund Geborenen ein Bild aufrührerischer Jugend in einem System, das sich als verknöchert und reformunfähig erweist. Es war ein vorweggenommener Abgesang: Kurz nachdem der Roman im September 1989 erschienen war, fiel bekanntlich die Mauer.

Auch sein neuestes Buch, der Erzählungsband „Kolja – Geschichten aus Israel“, liefert jetzt eine gesellschaftliche Analyse mit, freilich mit umgekehrten Vorzeichen. Chaim Noll, der mit seiner Familie 1995 nach Israel übersiedelte und sich in der Negev-Wüste nahe Beer-Sheva, aber auch nahe dem Zaun zu den besetzten Gebieten niederließ, entwirft darin ein Bild seiner Wahlheimat jenseits verbreiteter Stereotype. Und so gegenwärtig Ungerechtigkeiten und die Bedrohung durch Gewalt in den knapp 40 Geschichten auch sind, findet er doch immer wieder auch Hoffnungspunkte, vielleicht sogar eine Art Aufbruchstimmung.

Da ist der Nachbar, der dem Ich-Erzähler rät, Israel umgehend wieder zu verlassen, aber selber bleibt. Da ist die russisch-israelische Babuschka, die im Krankenhaus den arabischen Jungen mit der russischen Koseform seines Namens „Suleimanshik“ bemuttert. Da sind die Berliner Eltern, die den Sohn nach Israel schicken, um die zum Bleiben entschlossene Tochter zurückzuholen, der sich zu ihrem Entsetzen aber ebenfalls zum Bleiben entschließt: Israel erscheint hier nicht mehr nur als ein Land der Raketeneinschläge und Bombenexplosionen, sondern auch als eines großer Vitalität und Anziehungskraft, die es gerade auf junge Leute, Juden wie Nichtjuden, ausübt.

Für viele von Nolls Figuren ist es ein Gegenpol zum (gefühlten) Grau Berlins oder zur Gediegenheit des großbürgerlichen Haushalts der Eltern in Paris – einer sauberen, geschützten Welt, die sie als Konstruktion, als Kartenhaus empfinden. Selbst die Liebesgeschichten scheinen belastbarer werden zu müssen in einem Land auch kriegerischer Auseinandersetzungen. „Sie wollte bleiben, ihn heiraten, wünschte sich sogar Kinder“, heißt es über eine junge Frau, „Einfälle, die ihr vor einem Jahr in Deutschland unbegreiflich erschienen wären.“ Viele scheinen hier plötzlich Verantwortung und Authentizität zu entdecken. Vielleicht sind sie auch schon zuvor auf der Suche danach gewesen.

Schönfärberisch, das ist das Gute, sind Nolls lakonisch gehaltene, manchmal ironisch gewendete Texte aber nicht, im Gegenteil. Es gibt kein Happyend, wenn der Soldat, der gerade aus Russland eingewandert ist, im Libanon getötet wird, wenn orthodoxe Rabbiner dem Sohn von Holocaust-Überlebenden die jüdische Identität absprechen, wenn der windige Unternehmer, aber auch ein Beduinen-Scheich mit israelischem Pass palästinensischen Arbeitern den Lohn vorenthalten und sie über die Grenze schaffen lassen, sobald sie dagegen protestieren.

Ob Juden und Araber, Religiöse und Nichtreligiöse, israelische Beduinen und Palästinenser jenseits des Zauns, ob Eingesessene und Zuwanderer vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion: Es sind die Konfliktlinien, die den Autor interessieren. Doch im genauen Hinschauen vermag er eben auch einen funktionierenden Alltag zu entdecken, in dem Begegnungen und Austausch stattfinden, sich Lebensträume ähneln.

Vielleicht liegt das Besondere in Nolls Perspektive: War er einst beim „Goldenen Löffel“ ein Abtrünniger, der die Binnensicht kannte, ist er nun ein Dazugekommener, der sich die Zugewandtheit seines Blicks bewahrt. Diese Offenheit spricht aus jeder seiner Geschichten. Robert Schröpfer

DAS BUCH Chaim Noll: „Kolja – Geschichten aus Israel“. Verbrecher Verlag, Berlin 2012. 288 Seiten. 24 Euro.

Diese Rezension ist gedruckt erschienen in der Freien Presse Chemnitz, in der Leipziger Volkszeitung und im Weser-Kurier Bremen im Sommer 2012.