„Ein Schaufenster des Ostens“

Die Wiener Sprachwissenschaftlerin Tina Welke über Bilder vom Osten und die frühen „Tatorte“ des MDR

Die „Tatort”-Reihe gilt als ein Chronist der bundesdeutschen Gesellschaft. Denn erzählt wird zumeist auch etwas über die Realität. Die Wiener Sprachwissenschaftlerin Tina Welke, geboren 1968 in Ost-Berlin, hat sich in ihrer gerade erschienenen Dissertation „Tatort Deutsche Einheit – Ostdeutsche Identitätsinszenierung im ,Tatort‘ des MDR“ mit den 45 Folgen beschäftigt, die 1991 bis 2007 mit dem Ermittlerduo Ehrlicher/Kain alias Peter Sodann und Bernd-Michael Lade entstanden.

Der MDR stand in den Neunziger- und Nullerjahren in der Kritik, er habe nicht viel mehr als Schlager, Ost-Stars und einen nostalgischen Blick zurück auf die DDR zu bieten. Sie haben sich mit den MDR-„Tatorten“ jener Jahre beschäftigt. Ist der Sender besser als sein Ruf?

Tina Welke: All das gibt es natürlich. Aber Sie finden im Programm auch Dinge, die diesem Vorurteil nicht entsprechen: eine Kurzfilmreihe, anspruchsvolle Spielfilme, Dokumentationen, die sich kritisch auch mit der DDR auseinandersetzen. Was den „Tatort“ angeht, muss man noch einmal unterscheiden: Anders als das MDR-Fernsehen wendet er sich nicht vorrangig an das Publikum im eigenen Sendegebiet, sondern an ein überregionales Publikum. Damit ist er auch ein Schaufenster. Er eröffnet einen Blick in das eigene Sendegebiet.

Wie sieht er aus, dieser Blick in den Osten?

Welke: Erkennbar ist der Anspruch, einen offenen, zeitgemäßen Osten zu präsentieren und keinen, der ausschließlich der Vergangenheit verhaftet ist. Das führt einerseits dazu, dass man einiges gegen diese „Tatorte“ einwenden kann. Die Themen, die das mediale Bild vom Osten in den 90er-Jahren bestimmt haben – Stasi, Arbeitslosigkeit –, kommen in den „Tatorten“ des MDR allenfalls am Rande vor. Fremdenfeindlichkeit etwa ist nur ein einziges Mal das zentrale Thema einer Folge. Auch kontroverse Themen wie Religion werden weitestgehend ausgespart. Und der Westen begegnet einem in allen Folgen ziemlich stereotyp.

Und andererseits?

Welke: … erscheint der Osten in den „Tatorten“ in sich sehr differenziert. Wir sehen Figuren von einfachen Angestellten bis hin zu Managern, denen eines gemeinsam ist: Es sind Menschen wie du und ich, nur dass sie eben eine Ost-Biografie haben und sich nun einer gänzlich neuen Situation stellen müssen. Das kann man als Botschaft in den Westen, aber auch in den Osten verstehen. Und ich halte das schon für sehr wichtig und für etwas Besonderes.

Eine Grundthese Ihrer Arbeit lautet, nicht nur jede einzelne Folge, sondern alle 45 Folgen zusammen erzählten eine übergreifende Geschichte: den Weg des Ostens ins neue, vereinigte Deutschland. Wie verändert sich der Osten in diesen immerhin mehr als anderthalb Jahrzehnten „Tatort“?

Welke: Am Beginn sehen sich die Figuren mit völlig veränderten Verhältnissen konfrontiert. Es sind die Jahre unmittelbar nach der Wende. Die Fälle drehen sich um organisierte Kriminalität, Geschäftemacher aus dem Westen, eine Balletttruppe, der die Abwicklung droht. Man versucht, sich zu finden, sich neu aufzustellen, weiß aber noch nicht, wohin es gehen wird. Am Ende spielen die Ostthemen keine zentrale Rolle mehr. Sie sind allenfalls noch als kulturelles Erbe präsent, etwa die Leipziger Buchmesse als Schauplatz oder das eingeflochtene Klassikerzitat, das auf einen bestimmten Bildungskanon der Figuren verweist.

Heißt das, der Osten, die Protagonisten sind am Ende im neuen Deutschland angekommen?

Welke: In gewisser Weise ja – zumindest in der filmischen Darstellung. Wenn ich den Osten sozusagen neutral setze, heißt das ja auch, dass er nicht mehr so wichtig ist. Er hat sich, so kann man die Filme lesen, in einem Ganzen, dem neuen, vereinigten Deutschland, aufgelöst. In Bezug auf die Kommissare aber bin ich mir nicht so sicher, zumindest, was Ehrlicher angeht: Nachdem er in Rente gegangen ist und Kain den Dienst quittiert hat, reiten beide am Ende der letzten Folge auf Pferden der sächsischen Polizei am Horizont aus dem „Tatort“ hinaus. Man kann das in vielerlei Hinsicht als offenen Schluss verstehen.

Wie wandelt sich das Bild vom Westen in den Filmen?

Welke: Das ist vielleicht der größte Schwachpunkt der Reihe: nämlich gar nicht. Westdeutsche sind eigentlich von Beginn an bis zum Ende vorwiegend negativ dargestellt. Eine Ausnahme bilden nur die Rückkehrer: Menschen, die den Osten – ob vor oder nach 1961 – verlassen haben. Sie kennzeichnet in den „Tatorten“ eine gewisse Ambivalenz: Sie kennen die Spielregeln des Ostens und die des Westens. Dadurch haben sie einen Startvorteil.

Peter Sodann hat oft betont, wie nah die Figur des Ehrlicher ihm selbst sei. Merkt man der Figur die Nähe des Schauspielers zur Linkspartei eigentlich an?

Welke: Ich denke, Ehrlicher ist einer, der sich nicht viel sagen lässt von Vorschriften oder Autoritäten. Und auch wenn er die neuen Gegebenheiten durchaus akzeptiert, lässt er sich – übrigens genauso wie Kain – nicht absprechen, was er ist und was ein wesentlicher Teil von ihm ist. Ob daraus allerdings eine parteipolitische Präferenz spricht, vermag ich nicht zu beurteilen.

Was halten Sie von den neuen Leipziger „Tatort“-Folgen mit Simone Thomalla und Martin Wuttke?

Welke: Im Prinzip ist das Team eine gute Idee: Ost und West, Mann und endlich auch mal eine Frau. Das fehlte den früheren „Tatorten“ vollkommen. Aber ich habe das Gefühl, der MDR weiß noch nicht, was er mit dem neuen Duo eigentlich will. Eine übergreifende Idee wie bei Ehrlicher/Kain ist noch nicht zu erkennen. Doch vielleicht waren die Zeitumstände dort auch tatsächlich etwas Einmaliges und ist die Geschichte tatsächlich auserzählt, sodass sich daran nicht mehr anknüpfen ließ. Interview: Robert Schröpfer

DAS BUCH Tina Welke: „Tatort Deutsche Einheit – Ostdeutsche Identitätsinszenierung im ,Tatort‘ des MDR“. Transcript Verlag Bielefeld 2012. 402 Seiten, 35,80 Euro.

Das Interview ist gedruckt erschienen in der Freien Presse Chemnitz am 16. November 2012.