Wer wohnte direkt an der Mauer?

Im Asisi-Panorama zur Berliner Mauer sind auf Ost-Berliner Seite Wohnhäuser abgebildet, die unmittelbar am Todesstreifen liegen. Wer wohnte in solchen Häusern?

Asisi-Panometer_ Blick in die Sebastianstraße (c) Asisi GmbH

Trotz Zwangsumsiedlungen und Hausabrissen in Mauernähe befand sich hinter dem Todesstreifen auf Ost-Berliner Seite ein Sperrgebiet, das weiterhin bewohnt war und in dem sich auch Büros und Gewerbe befanden. Die Annahme, dass dort besonders linientreue Bewohner lebten, ist aber falsch, sagt der Historiker Ronny Kern, Autor des Buches „Siebzehn Kilometer Grenze – Die Berliner Mauer in Treptow 1961–1989“, einer der wenigen Studien, die sich mit diesem Thema befassen. Das Buch beleuchtet die Materie für den Stadtbezirk Treptow.

Vielmehr habe es sich um normale Menschen gehandelt, die unterschiedlichen Berufen nachgingen und eben nicht nur Angehörige der sogenannten Sicherheitsorgane oder Parteimitglieder waren. Sie hatten ihre Wohnungen zum Teil schon vor dem Mauerbau bezogen und bekamen die Mauer dann vor die Nase gesetzt, oder sie waren später wenig wählerisch gewesen. Beliebt war das Wohnen an der Mauer nicht.

Bewohner des Sperrgebiets hatten auf der Straße nicht täglich, aber häufig mit Kontrollen zu rechnen, bei denen sie sich mit ihrem Ausweis legitimieren mussten. Besucher und zum Beispiel Handwerker mussten sich Ronny Kern zufolge Passierscheine besorgen. Wer sie bei Kontrollen nicht vorweisen konnte, wurde zur Klärung auf die Wache mitgenommen. Keller wurden wegen möglicher Fluchttunnel kontrolliert. Dass die Häuser von offizieller Seite als Sicherheitsrisiko angesehen wurden, belegen außerdem Abrisse, die es bis in die 80er-Jahre hinein gab.

Der Block in der Heinrich-Heine-Straße 45-49 in Berlin-Mitte, dessen Längsseite an die Sebastianstraße grenzt und den Yadegar Asisi in seinem Berliner Panorama zeigt, wurde nach Auskunft der Wohnungsgenossenschaft, der er gehört, in den Jahren 1958/59 errichtet und bezogen. Die Balkons gab es also schon, bevor der Todesstreifen entstand. An der kurzen Seite des Blocks befanden sich – im Panorama weitestgehend verdeckt – die Anlagen des Grenzübergangs Heinrich-Heine-Straße. Der Block war dadurch in einem rechten Winkel von der Mauer umgeben. „Was wir immer hören, ist, dass die meisten in der DDR froh waren, überhaupt eine Wohnung zu bekommen“, sagt eine Mitarbeiterin der Wohnungsgenossenschaft. Das ähnelt den Zeitzeugenaussagen, die Kern in Treptow sammelte.

Der Historiker Hans-Hermann Hertle, Verfasser zahlreicher Bücher zur Berliner Mauer, bestätigt: Auch wenn es bis auf die Studie von Ronny Kern kaum Forschungen gebe, könne man sagen, dass unmittelbar an der Mauer keineswegs nur systemnahe Menschen lebten. In Bezug auf den Block an der Sebastianstraße fällt ihm ein Foto des Ost-Berliner Pressefotografen Dieter Breitenborn ein, das ein Brautpaar auf einem der Balkone vor dem Todesstreifen zeigt. Fotos der Grenzanlagen zu machen, war verboten. 40 Gäste sollen auf der Hochzeitsfeier gewesen sein. Verpfiffen wurde der Fotograf, der das Bild nach dem Mauerfall veröffentlichte, offenbar nicht. Robert Schröpfer

Erschienen auf einer Seite mit Leserfragen in der Freien Presse Chemnitz am 6. Juni 2014.

Das Bild oben zeigt das Asisi-Panometer mit dem Blick in die Sebastianstraße und auf den Wohnblock Heinrich-Heine-Straße 45-49. Foto: Asisi GmbH

Zum Berliner Asisi-Panorama geht es hier entlang, und alle Infos zu dem Buch von Ronny Kern gibt es beim Verlag.

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