Von der Varusschlacht bis Günter Grass

Zwei Sprachen, fünf Bände, 130 Autoren: Die „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte“ sind ein Mammutprojekt. Sie nehmen Geschichte aus einer doppelten Perspektive in den Blick.

Was man von der Geschichte zu halten hatte, war in Europa lange Zeit vor allem eine Frage der Perspektive. Bot die Trafalgar-Schlacht in England Anlass zu Jubiläumsfeiern und Flottenparaden, bedeutete sie für Frankreich und Spanien eine Niederlage. „Rom“ löste im protestantischen Norden andere Assoziationen als im katholischen Süden aus. Und selbst wenn man sich über die Bewertung von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg mittlerweile ziemlich einig ist, erzeugt der Name „Stalingrad“ in Deutschland noch immer einen Schrecken, während sich aus russischer Sicht der Sieg mit der Kriegswende verbindet. Das Leid russischer Soldaten und vor allem der Zivilbevölkerung rückte freilich in beiden Lesarten in den Hintergrund.

Umso wichtiger scheinen Forschungs- und Veröffentlichungsprojekte wie die von den Historikern Hans Henning Hahn und Robert Traba herausgegebenen „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte“. 130 Autoren aus beiden Ländern und verschiedenen Fachrichtungen versuchen in den insgesamt fünf geplanten Bänden, die zum Teil zeitgleich auf Polnisch und Deutsch erscheinen, eindimensionale Sichtweisen – hier in Bezug auf Polen und Deutschland – aufzubrechen und verschiedene Perspektiven zusammenzuführen. Dabei geht es nicht um eine Ereignisgeschichte. Im Vordergrund stehen vielmehr Geschichtssymbole und ihre sich verändernden Bedeutungen, die im sogenannten kollektiven Gedächtnis beider Länder eine wichtige, oft auch entgegengesetzte Rolle spielen und zum Teil verheerend auf die Realgeschichte zurückgewirkt haben.

Ob „Ostkolonisation“ oder „Thorner Blutgericht“, „Holocaust“, „Auschwitz“ und „SS“, „Polenfeldzug“, „Flucht und Vertreibung“ oder „Günter Grass“: Die Beiträge der ersten beiden Bände, die im Oktober erscheinen sollen, betrachten jeweils einen historischen Ort, eine Person, ein Ereignis oder Phänomen aus beiden Perspektiven. Im dritten Band „Parallelen“, der als erster bereits erschienen ist, werden hingegen 22 Begriffspaare verglichen, die im engeren Sinne oft gar keine deutsch-polnischen, sondern jeweils deutsche oder polnische Geschichtssymbole sind, aber bestimmte Analogien aufweisen, etwa „Altes Reich und Rzeczpospolita“ (als überkommene Staatsformen), „Kresy und Deutscher Osten“ (verlorene Gebiete) oder „Stasi und Ubecja“ (der Überwachungsapparat), aber auch „Beethoven und Chopin“ (für die Nation beanspruchte Komponisten), „Käfer und Maluch und Trabi“ (das ersehnte Auto) oder „Lolek und Bolek und Sandmännchen“ (Kindheitserinnerungen).

Am Beginn des Bandes stehen Mythisierungen des 19. und 20. Jahrhunderts wie „Schlacht im Teutoburger Wald und Schlacht bei Cedynia“, die sich auf frühe geschichtliche Ereignisse bezogen und daraus politisches Kapital zu schlagen versuchten. Am Ende findet sich die Erinnerung an die Zeitgeschichte, etwa das „Wunder von Bern 1954 und Wembley 1973“. Damals hatte sich unerwartet zum ersten Mal in der Nachkriegszeit eine polnische Mannschaft für eine Fußball-Weltmeisterschaft qualifiziert, bevor sie 1974 bei der WM selbst in der berühmt-berüchtigten „Frankfurter Wasserschlacht“ von Deutschland geschlagen wurde.

Spannend zu lesen sind die Beiträge vor allem dann, wenn sie zeigen, wie Entstehen und Bedeutungswandel von Erinnerungsorten überhaupt funktionieren. Corinna Felsch und Magdalena Latkowska zum Beispiel legen in ihrem Essay „Verfrühte Helden?“ dar, warum der Kniefall Willy Brandts aus dem Jahr 1970 in beiden Ländern zum Erinnerungsort wurde, der Brief der polnischen Bischöfe fünf Jahre zuvor aber nur in Polen. Der Kniefall vor dem Denkmal für den Warschauer Ghettoaufstand wurde in Polen sofort als Demutsgeste verstanden. Das Versöhnungsangebot der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder („Wir vergeben und bitten um Vergebung“) war in Deutschland hingegen auf Verhärtungen getroffen und ohne angemessene Antwort verhallt.

Auch in Polen wäre das Dokument so wohl einfach vergessen worden, wenn der Staat nicht deshalb eine antiklerikale Kampagne losgetreten hätte, in deren Folge sich die Bevölkerung zwar nicht mit dem Inhalt des Schreibens, wohl aber mit den Bischöfen solidarisierte. Dadurch blieb der Brief dort in Erinnerung und konnte später im Zuge eines allgemeinen Umdenkens über die deutsch-polnischen Beziehungen neu bewertet werden. In Breslau wurde dem Initiator schließlich ebenso wie in Warschau dem Kniefall des Bundeskanzlers ein Denkmal gesetzt.

Solche wechselseitigen Bezüge herauszuarbeiten, schaffen freilich nicht alle Beiträge. Manchmal wie bei „Rhein und Weichsel“ geht es gerade um eine Akzentuierung der Verschiedenheit. Auch dass der Band zuweilen hinter dem literarischen Ton zurückbleibt, wie man ihn aus den vorbildgebenden französischen „Lieux de mémoire“ oder den „Deutschen Erinnerungsorten“ kennt, mag der Voraussetzungslosigkeit, von der man angesichts der Unkenntnis der jeweils anderen Geschichte ausgehen musste, und der Stofffülle der doppelten Betrachtungsweise geschuldet sein.

Aber es zeichnet sich ab, dass hier im Ganzen bald eine Zusammenschau zur deutsch-polnischen Verständigung geboten wird, die geeignet ist, genau solcher Unkenntnis entgegenzuarbeiten. Der vorliegende Band allein vermittelt vielfältige Einsichten in polnische und im Vergleich immer auch in deutsche Prägungen und Geschichte. Robert Schröpfer

Erschienen in der Freien Presse Chemnitz am 13. Juni 2012.

DAS BUCH Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.): „Deutsch-Polnische Erinnerungsorte“, Band 3: „Parallelen“. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012, 490 Seiten, 58 Euro.