Gehört der Islam dazu?

Bundespräsident Gauck hat Verständnis für jene, die fragen, wie denn der Islam Europa geprägt habe. Das Buch „Platon in Bagdad“ von John Freely gibt Antworten darauf.

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„Der Islam gehört zu Deutschland.“ Auch wenn sich Bundespräsident Gauck diesem Satz seines Amtsvorgängers in einem Interview in der „Zeit“ nicht anschließen mochte, ist Bestürzung darüber ausgeblieben. Denn die Muslime, die in diesem Land leben, so fügte das Staatsoberhaupt an, gehörten für ihn sehr wohl dazu. Etwas anderes zu behaupten, wäre auch weltfremd gewesen. Und es scheint Joachim Gauck, der in dem Interview manches Kluge über Politik und Medien, den Nationalsozialismus, den Holocaust und die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel sagt, ja keineswegs daran gelegen, den Pluralismus dieser Gesellschaft infrage zu stellen. Er spricht nur eben lieber distanziert von einer „Gemeinsamkeit der Verschiedenen“ statt bekenntnishaft wie noch Christian Wulff.

Wenn Gauck aber auf sein Verständnis für jene kommt, die sich fragten: „Wo hat denn der Islam dieses Europa geprägt, hat er die Aufklärung erlebt, gar eine Reformation?“, dann möchte man doch einen Lektüre-Tipp einwenden. Abgesehen von Lessings „Nathan“ und seiner Ringparabel, dem aufklärerischen Stück deutscher Literatur par excellence, kann man zum Beispiel an das derzeit viel gelobte Buch „Platon in Bagdad“ von John Freely denken. Der amerikanische, in Istanbul lebende Wissenschaftshistoriker zeichnet darin nach, wie das Wissen der Antike von Athen über Rom, Byzanz und die islamische Welt zurück nach Europa kam, wie es seinen Weg vom Griechischen ins Syrische und Arabische, vom Syrischen ins Arabische, vom Arabischen und Griechischen ins Latein der frühen Neuzeit fand. Es geht um Medizin, Mathematik und Physik, Philosophie und Astronomie, Disziplinen also, die in der Lage sind, Grundauffassungen zu formen.

Besonders das Bagdad des neunten Jahrhunderts mit seinem „Bait al-Hikma“, dem Haus der Weisheit, so Freely, habe antikes Wissen übersetzt, bewahrt und gemehrt. Während die Wissenschaften im christlichen Europa in den Trümmern des von Germanen überrannten Roms versunken waren, erlebten sie in der arabischen Welt eine Renaissance, um dann mit der islamischen Expansion als Re-Import über Toledo und Palermo aufs Abendland zurückzustrahlen. Darauf bauten auch Kopernikus und Kepler mit ihren heliozentrischen Theorien auf, deren Anhänger bekanntlich Ärger nicht mit den Muslimen hatten, sondern mit der Inquisition. „Der ursprüngliche Konflikt, der mit dem Aufstieg des Islam einherging“, schreibt Freely, „brachte die griechisch-islamische Wissenschaft in den Westen, und das war der Anfang der modernen wissenschaftlichen Tradition.“ Die Basis für ein neues wissenschaftliches Weltbild, wie es der Westen heute pflegt, wurde vom Islam mitbegründet.

Nun kann man sich fragen, ob sich solches Wissen trotz oder wegen des Islam erhielt und entwickelte. John Freely widerlegt die angebliche pauschale Wissenschaftsfeindlichkeit dieser Religion. Man kann sich fragen, wie es in der islamischen Welt nach jener Blüte weiterging. Freely geht auch der „langen Abenddämmerung der islamischen Wissenschaften“ nach. Und man kann durchaus fragen, ab wann etwas zu etwas gehört. Reicht es aus, einen großen Einfluss auf eine Kultur entfaltet zu haben? Reicht es, in der Gesellschaft der Gegenwart präsent zu sein? Oder muss man sich noch einmal anders qualifizieren, worauf Gaucks rhetorische Frage mit ihrer bemerkenswerten Steigerung Prägung – Aufklärung – Reformation ja abzuzielen scheint. Eine Reformation aber haben auch Katholiken und Orthodoxe nicht vorzuweisen.

Die Ideale der Aufklärung, die Menschen- und Bürgerrechte, die Trennung von Staat und Religion sind universell. Deshalb formuliert der Bundespräsident im Interview zu Recht auch eine Erwartungshaltung an den Islam, der wie seine Gläubigen diese Werte zu akzeptieren hat. Dass er aber längst zu Europa gehört und das offenbar nicht nur aufgrund von Konfrontationen und Kriegen, Kreuzzügen, den Türken vor Wien und der Schlacht am Kahlenberg, scheint eine Feststellung zu sein und keine Wertung. Robert Schröpfer

Erschienen in der Freien Presse Chemnitz am 5. Juni 2012.

John Freely: „Platon in Bagdad – Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam“. Aus dem Englischen von Ina Pfitzner. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 388 Seiten, 24,95 Euro.

Das Interview („Die Zeit“ Nr. 23/2012) mit dem Bundespräsidenten finden Sie hier.

Das Bild oben ist die Darstellung einer chirugischen Operation in einer türkischen Schrift des 15. Jahrhunderts. Foto: Wikipedia