Die Sportifizierung der Welt

Vom antiken Olympia bis ins 21. Jahrhundert: Zu allen Zeiten trieben Menschen Sport. Der Historiker Wolfgang Behringer hat eine ebenso faktenreiche wie unterhaltsame „Kulturgeschichte des Sports“ geschrieben.

Wie sehr sich im Florenz der Medici das öffentliche Leben um den Fußball drehte, darauf verwies vor einigen Jahren der Kunsthistoriker Horst Bredekamp mit seiner Studie „Florentiner Fußball – Die Renaissance der Spiele“. Nachdem die mächtige Patrizierfamilie Anfang des 16. Jahrhunderts die Republik endgültig beseitigt und eine Alleinherrschaft über die Stadt errichtet hatte, verschwand nicht etwa der Calcio, der bis dahin volkstümliche Fußball. Die Medici bauten ihn zum regelrechten Staatssport aus.

Bei Hochzeiten, Staatsbesuchen und offiziellen Anlässen jeder Art wurden Gala-Spiele – wenn auch nach anderen Regeln als heute – mit teuren Trikots, aufwendigen Fahnen und einem zeremoniellen Mannschaftseinmarsch abgehalten. Mitglieder des Herrscher-Clans stellten sich gern selbst als Spieler auf. Auch das Wappen der Familie bezog man in die Aneignung ein: Die sechs Kugeln, die es zeigte, wurden in Bilddarstellungen mit Fußbällen in Verbindung gebracht, die italienisch ebenfalls „Palle“ heißen.

Bei dem Historiker Wolfgang Behringer, Professor an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und Spezialist für die frühe Neuzeit, ist der Florentiner Fußball nun Teil einer umfassenden „Kulturgeschichte des Sports“. Und auch wenn die Literatur vielfach erst das 19. Jahrhundert zum Beginn eines eigentlichen Sports deklariert und dann zuweilen allenfalls die Antike als eine Art Vorläufer gelten lässt, wird bei der Lektüre des 500-Seiten-Bandes sehr klar, dass der Calcio der Medici keineswegs eine Ausnahme in seiner Zeit darstellte.

Ob Heinrich VIII. von England, der neben der Jagd eine Vorliebe für Tennis hegte, oder Franz I. von Frankreich, dessen Sieg im Ringkampf über den britischen Monarchen im Jahre 1520 beinahe zu diplomatischen Verwicklungen führte, ob die Bootsregatten Venedigs, die Ballspielsäle und Ballhäuser der Residenzen und Städte oder die zahlreichen Ritterakademien überall in Europa, in denen der Sport zu einer Hauptbetätigung avancierte: Die frühe Neuzeit war keine Lücke in der Sportgeschichte. Vielmehr, und darauf will Behringer hinaus, habe sie eine „Scharnierfunktion“ zwischen olympischer Antike und dem Aufschwung des modernen Sports seit dem 19. Jahrhundert eingenommen, ohne deren Kenntnis neuere Entwicklungen nicht zu verstehen seien.

Natürlich setzt die Darstellung, wie es sich für eine Kulturgeschichte des Sports gehört, weit früher in der Geschichte ein. Schon die alten Ägypter kannten Wettläufe und Bogenschießen, Boxen, Ringkampf und Stockgefechte. Für die Griechen wurden Wettkämpfe an den Heiligtümern Delphi, Nemea, Isthmus und Olympia zu Ereignissen, die auch Ausdruck des Zusammenhalts und zugleich der Konkurrenz innerhalb der griechischen, in Stadtstaaten geteilten Welt waren.

Die Römer bauten „Brot und Zirkusspiele“ – Wagenrennen, Gladiatorenkämpfe und Tierhatzen – zur Massenunterhaltung aus. 150.000 Zuschauer fasste der Circus Maximus in Rom. Und wenn Behringer von Sportkomplexen und einer antiken „Sportartikelindustrie“ schreibt, die die Athleten des Altertums mit Wurfspeeren, Disken und Sprunggewichten versorgte, rückt er die Antike nicht nur rhetorisch in die Nähe der Gegenwart. Tatsächlich scheinen Wettkämpfe und Spiele seit jeher mit politischen und ökonomischen Implikationen verbunden und für die Erfüllung von Repräsentationszwecken wie Unterhaltungsbedürfnissen prädestiniert gewesen zu sein.

In der Renaissance beginnt für Wolfgang Behringer die Ausformung des modernen Sports, der sich vom antiken in seiner Ablösung von religiösen Motiven unterscheidet. Während andere Autoren die Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Renaissance betonen und einen Umbruch erst im 19. Jahrhundert erkennen, akzentuiert er stärker die Veränderungen in der frühen Neuzeit. An die Stelle von Gewaltsportarten, wie sie das Mittelalter mit seinen Ritterturnieren, blutigen Steinschlachten und Faustkriegen kannte, trat ein spielerischer Aspekt, der die Demonstration von Eleganz und Können in den Vordergrund stellte. Mit Lehrern, festen Sportstätten, gedruckten Regelwerken institutionalisierten und professionalisierten sich die Spiele. Im Englischen bildete sich die Vokabel „Sport“ heraus, die damals im Sinne von Kurzweil und Vergnügung verwendet wurde.

Vor allem aber machte die Körper- und Sportfeindlichkeit, die das Christentum lange Zeit propagierte, einem neuen, positiven Verständnis Platz. Sportliche Betätigung zur Gesunderhaltung des Körpers wurde in Anlehnung an antike Quellen nun einhellig empfohlen. Auch in der Pädagogik tauchte der Gedanke körperlicher Ertüchtigung auf. Und als 1896 in Athen auf Betreiben Pierre de Coubertins die „ersten“ Olympischen Spiele der Neuzeit stattfanden, waren zum Beispiel in den englischen Cotswolds-Hügeln – ebenfalls unter Indienstnahme der Antike – von 1612 bis 1852 schon jährliche, wenn auch in ihrer Ausstrahlung begrenzte „Olympick Games“ abgehalten worden. Neben Kegeln und Schienbeintreten standen dort etwa Hammer- und Speerwerfen, Ringen und Boxen, Springen und Laufen auf dem Programm.

Die Sportifizierung der militärischen Übungen wie auch der populären Spiele, so fasst Behringer zusammen, zähle ebenso wie die Disziplinierung, die Verrechtlichung, die Säkularisierung oder die Globalisierung zu den „Fundamentalprozessen der Moderne“, die bestimmend für die Neuzeit überhaupt seien. Nicht nur der Sport wurde demnach von allen diesen Prozessen mit geprägt – bekam also Regeln, löste sich vom religiösen Kult, breitete sich über geografische Schranken hinweg aus –, er selbst prägte auch die Welt.

Im Sport manifestierte sich die neue Einteilung der Zeit in Arbeit und Freizeit ebenso wie das neue Körperbewusstsein der Moderne und das neue Selbstwertgefühl des Individuums. Und die noch immer wachsende Zahl von Sportlern und Sportarten heute, die neuen Stadionbauten, steigenden Werbeeinnahmen und Athletengagen oder auch die Zurschaustellung sportlicher Aktivitäten durch Politiker, so Behringer, deuteten darauf hin, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen sei. Man denke nur an die Selbstinszenierungen joggender US-Präsidenten oder Wladimir Putins mit freiem Oberkörper, die den Sport als Metapher für Macht und Leistungsfähigkeit nutzen.

Sicherlich ließe sich manches einwenden gegen dieses Buch. Allenfalls am Rande kommt der Sport in Afrika, Asien und der indigenen Bevölkerungen Amerikas vor. Und wenn sich Wolfgang Behringer mit der Feststellung, „dass unterschiedliche Formen von Gesellschaft unterschiedliche Formen von Sport hervorbringen“, einer strikten Definition des Sportbegriffs entzieht, mit der bei anderen Autoren steht und fällt, ab wann von einem Sport und vom Sport überhaupt zu sprechen sei, mag das unbefriedigend erscheinen. „Sport ist, was Spaß macht“, heißt es einmal sogar.

Doch einerseits treffen, wie Behringer plausibel darlegt, viele der anderswo genannten Kriterien auch schon auf Leibesübungen und Wettkämpfe der frühen Neuzeit zu. Und legt man andererseits zum Beispiel die Rekordjagd oder eine objektive Messbarkeit von Ergebnissen als Maßstab an, sind der Breitensport, aber auch Eiskunstlauf, Kunstgymnastik und viele neue Fun-Sportarten darunter kaum zu fassen. Ganz zu schweigen vom Amateurgedanken, wie ihn das IOC lange postulierte. Er diente lediglich dem elitären Charakter eines Gentleman-Sports, schirmte Mittellose ab und wurde dennoch vielfach unterlaufen.

Wolfgang Behringer meidet derlei rigorose Fixierungen. Auch an sinnstiftenden Traditionserfindungen, wie sie eine ältere Sportgeschichtsschreibung betrieb, ist ihm nicht gelegen. Vielmehr liegt seiner Kulturgeschichte im Ganzen eine Auffassung vom Sport als anthropologischer Konstante zugrunde, die immer neue Ausprägungen findet und die auch mit Begriffen wie Erlebnis, Kick und Event zu tun hat. Dafür liefert das Buch, selbst wenn man seine Folgerungen nicht teilt, eine anregende Verbindung aus detailliertem Faktenwissen und der unterhaltsamen Nachzeichnung großer Trends in einem der wichtigsten Bereiche menschlicher Betätigung überhaupt. Das Zeug zum Standardwerk hat es jedenfalls. Robert Schröpfer

DAS BUCH Wolfgang Behringer: „Kulturgeschichte des Sports – Vom antiken Olympia bis ins 21. Jahrhundert“. Verlag C. H. Beck, München 2012. 494 Seiten. 24,95 Euro.

Und zu dem eingangs erwähnten Calcio-Büchlein von Horst Bredekamp geht es hier entlang.

calcio

Im Bild: eine Calcio-Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Quelle: Wikipedia)

Gedruckt erschienen im August 2012 in der Freien Presse Chemnitz, der Leipziger Volkszeitung, den Dresdner Neuesten Nachrichten und im Weser-Kurier Bremen.