„Leipzig verschwindet im Vergessen“

Die Stadt begeht den 200. Jahrestag der Völkerschlacht. Dass sich das Datum auch als Termin deutsch-französischer Aussöhnung eignet, daran hat die Historikerin Hélène Miard-Delacroix, Professorin an der Universität Paris-Sorbonne, allerdings ihre Zweifel.

Aus deutscher Sicht spielt die Völkerschlacht als Ereignis und als Geschichtssymbol eine Rolle. Hat sie für Frankreich eine ähnliche Bedeutung?

Hélène Miard-Delacroix: Für das heutige Frankreich spielt sie keine Rolle. Sie ist sogar völlig unbekannt. Nur die Historiker und unter ihnen nur die, die sich mit Deutschland befassen oder die ihren Schwerpunkt auf die Geschichte Napoleons gelegt haben, wissen, was die Völkerschlacht war.

Woran liegt das?

Miard-Delacroix: Zunächst einmal erinnert man sich nicht so gerne an Niederlagen, und aus französischer Sicht ist die Völkerschlacht eine Niederlage. Außerdem bietet die napoleonische Zeit genügend Siege, sodass man die Niederlagen sehr, sehr leicht vergisst. Waterloo wird nicht vergessen, weil es für den Gang der Geschichte so entscheidend war. Aber Leipzig verschwindet im Meer des Vergessens.

Also nimmt den Sachsen in Frankreich auch niemand mehr übel, dass sie – wie in Deutschland gern erzählt wird – mitten in der Schlacht die Seiten wechselten?

Miard-Delacroix: Man kennt das: Es gibt einige Beispiele in der Geschichte, dass man Verbündete hat, die plötzlich ihre Meinung ändern. Aber wie gesagt: Es ist ein Thema ausschließlich für Historiker.

Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal wurde 1913 als ein Monument des Nationalismus errichtet. Kann eine Umdeutung zum Versöhnungssymbol gelingen, wie es sich Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung wünscht?

Miard-Delacroix: Da habe ich keine Antwort, und ich weiß auch nicht, ob das wirklich nötig ist. Auch hier gilt: Als Experte weiß man, dass das Völkerschlachtdenkmal ein Ausdruck dessen war, eine deutsche Identität zu schaffen, indem man sich gegen Frankreich abgrenzte. Die damals behauptete Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich war ein Katalysator für die Sammlung der Deutschen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht einmal wussten, dass sie Deutsche waren. Sie waren Sachsen, Bayern und Preußen. Dass auch die Völkerschlacht in den Dienst dieser Sache gestellt wurde, ist den Historikern bekannt. Aber ich fürchte, dass es in Frankreich nicht einmal ein negatives Erinnern daran gibt. Interview: Robert Schröpfer
 
Das Interview erschien im Rahmen eines Themenschwerpunkts „200 Jahre Völkerschlacht – 100 Jahre Völkerschlachtdenkmal“ in der Wochenendbeilage der Freien Presse Chemnitz am 4. Oktober 2013.

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